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Nibelungenlied

Manuskriptseite (Kriemhilds Reise zu ihrem Bräutigam Etzel), Handschrift C, 50v, Erste Hälfte 13. Jh.; © Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Codex Donaueschingen 63

Das bekannteste heroische Epos der deutschen Literaturgeschichte ist um 1200 entstanden und in mehreren Fassungen mit einem Umfang von bis zu 2442 Strophen (Fassung C) zu vier paargereimten Langversen überliefert; der Autor oder die Autorin ist unbekannt.

Das Nibelungenlied erzählt von zweierlei Handlungsverläufen, zum einen von der Werbung Siegfrieds um die burgundische Prinzessin Kriemhild und von seiner Ermordung durch Hagen, den Vasallen von Kriemhilds Bruder Gunther; zum anderen vom Zug der nunmehr Nibelungen genannten Burgunden von Worms an den Hof des Hunnenkönigs Etzel im ungarischen Esztergom/Gran, wohin sie Kriemhild, mittlerweile Etzels Gattin, geladen hatte, um nach mehr als 25 Jahren die Rache für Siegfrieds Ermordung zu vollstrecken, was denn auch mit dem bekannten Gemetzel im Festsaal der Etzelsburg geschieht.

Auf ihrem Weg von Worms zur Etzelsburg, der sie die Donau entlangführt, gelangen die Nibelungen zwangsläufig auch durch heute oberösterreichisches Gebiet. Vor ihnen haben schon die hunnischen Boten Wärbel und Swämmel, die die heimtückische Einladung überbracht hatten, sowie Markgraf Rüdiger, von Pöchlarn kommend, oberösterreichischen Boden betreten müssen; Rüdiger hatte in Worms für seinen Dienstherrn Etzel um die verwitwete Kriemhild geworben; durch Oberösterreich muss schließlich auch sie gereist sein, nachdem sie die Werbung angenommen hatte.
Oberösterreich ist im Nibelungenlied also ein Transitland und das Epos betrachtet es - historisch wenig überraschend - auch nicht als eine eigene Region, sondern als den eher unwirtlichen östlichen Teil "Beyerlands" (Str. 1427), gelegen zwischen dem gastlichen Bischofssitz Passau und der Enns, der markanten Grenze zum Reich König Etzels und dem nächsten Ort, wo man gerne Rast hält, nämlich Rüdigers Burg Bechelâren, heute eben Pöchlarn in Niederösterreich. Was dazwischen liegt, ist Ödnis und bleibt weitgehend unbenannter, wenngleich poetisch nicht ganz leerer Raum. Es gibt einige interessante Detailszenen, die leicht überlesen werden und doch die Erzählkunst des Textes im Kleinen dokumentieren. So werden die Nibelungen in Passau zwar freundlich empfangen, müssen aber diesseits des Inn, also im Oberösterreichischen, ihr Lager aufschlagen, weil in der Stadt kein Platz ist (Str. 1629). An der Ennsgrenze stoßen sie auf den einsamen, schlafenden Eckewart, der für Kriemhild nach den Brüdern und Hagen Ausschau halten soll. Hagen nimmt ihm zunächst das Schwert, gibt es ihm dann aber wieder zurück, um sich über die Strapazen, die niedergerittenen Pferde und den Mangel an brauchbaren Quartieren zu beklagen. Eckewart führt sie daraufhin zum freigiebigen Rüdiger (Str. 1631-1641).

Weniger düster geht es bei der zuvor geschilderten Reise Kriemhilds zur Hochzeit mit Etzel in Wien zu: Hier schlägt man nach der Überquerung der Traun auf "dem Feld vor Enns" ein prächtiges Lager auf. Kriemhild und der Brautführer Rüdiger werden von dessen Gemahlin Gotelind prächtig empfangen, bevor man weiter nach Pöchlarn zieht (Str. 1304-1317). An oberösterreichischen Orten hatte man zuvor bloß Eferding namentlich passiert. Und in dieser Gegend Beyerlands hätte es - wie es im Text heißt - genügend gegeben, die den reichen Tross gerne überfallen hätten, allein Rüdigers mächtiges Begleitheer wusste dies zu verhindern (Str. 1302). Ob diese kritische Bemerkung ernst oder ironisch gemeint ist, muss im Dunkeln bleiben; ebenso, ob wir es mit Fremdwahrnehmung oder mit einem Akt früher "Nestbeschmutzung" im Sinne Thomas Bernhards zu tun haben. Dies wäre der Fall, wenn etwa der mittelhochdeutsche Minnesänger Der von Kürenberg nicht nur in Oberösterreich zu lokalisieren wäre (was wahrscheinlich ist), sondern auch das Eposgedichtet hätte (was mehr als in Zweifel steht). Träfe es zu, dann wäre das Nibelungenlied einer der wichtigsten und gewichtigsten Beiträge Oberösterreichs zur Weltliteratur. Wissen lässt sich das nicht. Wollte man es aber glauben, befände man sich immerhin in guter Gesellschaft, denn einer der bedeutendsten Verfechter der sogenannten Kürenberger-These war kein Geringerer als Adalbert Stifter, der dergleichen in seinem Witiko(1867) behauptet.
Keine Berührungen mit Oberösterreich haben im Übrigen die Nibelungen des ersten Teils, also jene Zwerge des Nordens, von denen Siegfried einen reichen Schatz, den Nibelungenhort, gewinnt.

Manfred Kern

 

Das Nibelungenlied. Mhd./Nhd. Hg. von Siegfried Grosse. Stuttgart 2006.

Berndt, Helmut: Das 40. Abenteuer. Auf den Spuren der Nibelungen. München 1974. - Eis, Gerhard: Die angebliche Bayernfeindlichkeit des Nibelungenlieds. In: Forschungen und Fortschritte 30 (1956), 308-312. - Hansen, Walter: Wo Siegfried starb und Kriemhild liebte. Die Schauplätze des Nibelungenliedes. Wien 1997. - Knapp, Fritz Peter: Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273. Graz 1994, 304-314. - Panzer, Friedrich: Der Weg der Nibelungen. In: Erbe der Vergangenheit. Germanistische Beiträge. Festgabe für Karl Helm zum 80. Geburtstag. Tübingen 1951, 83-107. - Thomas, Heinz: Dichtung und Politik um 1200: Das Nibelungenlied. In: Klaus Zatloukal (Hg.): Pöchlarner Heldenliedgespräch: Das Nibelungenlied und der mittlere Donauraum. Wien 1990, 103-129.

Stand: 28.10.2009