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Franz Ernest Aubert Tumler

© Deutsches Literaturarchiv Marbach

Geb. 16.1.1912 in Bozen, gest. 20.10.1998 in Berlin.
Nach seinem ersten großen Erfolg, der Erzählung Das Tal von Lausa und Duron (1935), ist Tumler erst gefeierter Autor des nationalsozialistischen Literaturbetriebs, nach 1945 sucht er neue Erzählformen, um seiner Sprach- bzw. Wirklichkeitsskepsis Ausdruck zu verleihen, und wendet sich u. a. Techniken des Nouveau Roman zu.

Besonders geprägt wird Tumler durch die Vaterheimat Südtirol, in der er selbst nur sein erstes Lebensjahr verbracht hat. Die Mutter übersiedelt nach dem Tod des Vaters, des Gymnasiallehrers Franz Tumler, zuerst nach Ried/Innkreis und dann nach Linz, wo der Knabe die Schule besucht und von seinem Stiefvater, der auch Lehrer ist, dazu angehalten wird, Erfahrungen genau zu beobachten und aufzuschreiben. Der Großvater Josef Fridrich war Buchdrucker in Ried/Innkreis und später in Linz, wodurch für Tumler zusätzlich ein enges Verhältnis zu Gedrucktem entstand. Neben Büchern wie Alois Theodor Sonnleitners Höhlenkinder (1918-20) liest Tumler in frühen Jahren Adalbert Stifter. Vor allem Stifters genauer Blick und die Verlangsamung in seinem Erzählen prägen Tumlers Schreiben. Während er jedoch in seinem Stifter-Lesebuch (1939) noch die Darstellung der Natur betont, wendet er sich zwischen den 1950er und 70er Jahren zunehmend vom eigentlichen Erzählen einem Wiederholen und Aufzählen sowie selbstreflexiven Schreiben zu. Tumler äußert sich mehrmals explizit zu seinem literarischen Vorbild, z. B. in Warum ich nicht wie Adalbert Stifter schreibe (1967).

In Mitgliedern der Innviertler Künstlergilde wie Bruno Brehm (1892-1974), Arthur Fischer-Colbrie (1895-1968) und Paul Graf von Thun-Hohenstein (1884-1963) findet Tumler interessierte und strenge Leser. Er veröffentlicht drei Gedichte im Jahrbuch der Gilde von 1933. Mit 14 Jahren besucht er das erste Mal die Verwandten in Laas, Schlanders und Bozen. Südtirol beeindruckt ihn nachhaltig, was sich in seiner ersten großen Erzählung Das Tal von Lausa und Duron niederschlägt. Das Zusammentreffen der Italiener, Deutschen und Ladiner im Ersten Weltkrieg wird an einem Dorf und konkret an einer Familie nachvollzogen. Das Scheitern der Heimatfindung bestimmt diese Erzählung, deren Veröffentlichung durch Paul Alverdes (1897-1979) und Benno von Mechow (1897-1960) in der Zeitschrift Das Innere Reich und als Buch beim Langen-Müller Verlag dem Autor einen großen Erfolg beschert und ihn zum "Shootingstar" des Nationalsozialistischen Literaturbetriebes aufsteigen lässt. Er gibt seinen Brotberuf als Lehrer auf und lebt als freier Schriftsteller auf Schloss Hagenberg bei Pregarten (OÖ). Neben dem Gedicht Anruf (1934) und der Erzählung Der Soldateneid (1939), die den "Anschluss" Österreichs begrüßen, verfasst Tumler unter anderem auch eine Propagandaschrift Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches (1940). In der Zeit entstehen aber auch Texte wie die Erzählung Der erste Tag (1940) oder Der Ausführende (1937). Das sperrige Werk wird von der Literaturkritik meist ignoriert, eine der wenigen Rezensionen verfasst Gertrud Fussenegger. Sie pflegt in der Folge einen langjährigen Briefverkehr mit Tumler. Die Begegnungen finden bei Tumler z. B. Niederschlag in Nachprüfung eines Abschieds (1961), bei Fussenegger in Die Pulvermühle (1968).

Die Bemühungen, Tumler für die Propagandakompanie zu gewinnen, scheitern, er meldet sich 1941 aus Überzeugung als Soldat; als kriegswichtiger Schriftsteller wird er jedoch durch die Behörden wieder freigestellt und erst 1944 - nach seinem erneuten Ansuchen - an die Atlantikküste gesandt. Nach der Rückkehr aus Krieg und Gefangenschaft, die er in seinen in der Metaphorik der 1930er und 1940er Jahre verhafteten Roman Heimfahrt (1950) einarbeitet, siedelt er sich wieder in Hagenberg an. Er veröffentlicht Der alte Herr Lorenz (1949) beim Otto Müller Verlag und Heimfahrt auf Vermittlung Bruno Brehms beim Pilgram Verlag; mit dessen Lektor Hermann Stuppäck (1903-1988) verbindet ihn eine langjährige Freundschaft. Mit dem abseits der politischen Bühne spielenden Roman Ein Schloß in Österreich (1953), erschienen bei Hanser, und insbesondere mit dem bei Suhrkamp erschienenen Roman Der Schritt hinüber (1956) ist er literarisch wieder erfolgreich. Für letzteren erhält Tumler den Schweizer Charles Veillon-Preis und es beginnt ein neuer Abschnitt in seinem Schreiben. Das Erleben des Einzelnen und die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Erzähltem werden zu bestimmenden Elementen: "Immer geschieht etwas anderes, als das, was geschieht. Aber dieses andere läßt sich nicht erkennen. Nur was als Geschichte geschieht, läßt sich erkennen. Was eigentlich geschieht, läßt sich nicht herunterdrehen auf eine Geschichte" (87), schreibt Tumler in Der Schritt hinüber.

Seine dritte Lebenslandschaft wird nach 1950 Berlin. Er schließt Freundschaft mit Gottfried Benn (1886-1956), der ihn im Schreiben am Schritt hinüber bestärkt, und wird zu Treffen der Gruppe 47 eingeladen, bei der er 1962 liest. Seinen Lebensunterhalt verdient Tumler mit Besprechungen und Radiobeiträgen wie z. B. Das Wort zum Tage beim RIAS Berlin. Er wird Mitglied und in den 1960er Jahren Leiter der Abteilung Literatur der Berliner Akademie der Künste. In Berlin arbeitet er u. a. mit Hermann-Peter Piwitt (geb. 1935) und Walter Höllerer (1922-2003) zusammen, dem Gründer des Literarischen Colloquiums, dem auch Tumler angehört. Er trifft Österreicher, die sich in Berlin aufhalten: z. B. Ernst Jandl (1925-2000), Friederike Mayröcker (geb. 1924) oder H.C. Artmann (1921-2000). Geschätzt wird Tumler vor allem in literaturwissenschaftlichen Kreisen für seine poetologischen Betrachtungen, die ihren Höhepunkt in Volterra. Wie entsteht Prosa (1962) erreichen. Tumler fordert für sich eine "Aufnahme des Augenblicks" in Prosa-Texte und entwickelt lyrische Prosa, z. B. in Sätze von der Donau (1972). Für den Autor zählen Ort, Zeit und Stoff zu den Kategorien, die auf ihren "Wahrheitsgehalt" überprüft werden müssen. "Dieser Zwang zur Umsetzung des für gewöhnlich als ‚wirklich‘ bezeichneten Lebens in ein dargestelltes Leben, ist, meines Erachtens, der entscheidende Schritt, der zur Entstehung eines Kunstwerks führt", so Tumler in Volterra.Wie entsteht Prosa (1962, 37). Die Handlung ergibt sich für ihn aus der Sprache, nicht aus der Anschauung. Vergleichbar sind Tumlers Arbeiten etwa mit Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob (1959), der ebenfalls irritierende Momente der Wirklichkeit ins Schreiben einfließen lässt.

Mit der Entwicklung neuer Schreibformen - vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg - und in seinem autobiografischen Text Jahrgang 1912 (1967) distanziert sich Tumler vom Schreiben im Nationalsozialismus. Seine Rolle in der Zeit sowie die Art, mit der eigenen Vergangenheit umzugehen, sind später immer wieder Gesprächsthema: etwa im Werkstattgespräch mit Peter Demetz 1977 und im Interview mit Joseph Zoderer 1995 sowie den Reaktionen darauf. Tumler gilt als Autor der späten Moderne. Unsicherheiten, Erkenntnisschwierigkeiten und Orientierungsprobleme werden zur Sprache gebracht. Er setzt die Unsicherheit u. a. in den Rätselstrukturen der Erzählung Der Mantel (1959) um, als Ort der Handlung ist Linz zu erkennen. Immer wieder besucht er Oberösterreich, reist nach Italien und Südtirol. Bei ihm ist die Landschaft ebenso "Figur" wie die Menschen, die sichtbar oder unsichtbar in ihr wirken. In seinen Texten kommt der Autor immer wieder auf die sein Leben bestimmenden Landschaften, auf Berlin, Oberösterreich und Südtirol, zu sprechen. Beispiele dafür sind das narrative Sachbuch Das Land Südtirol (1971) und Landschaften und Erzählungen (1974). In Südtirol entwickelt sich Tumler zu einer Schlüsselfigur der Literaturszene. Norbert C. Kaser (1947-1978) lässt in seiner Brixner-Rede 1969 nur Tumler aus der älteren Generation gelten: "Ich habe zwar etwas gegen Betitelungen, aber er ist der Vater unserer Literatur und der Vater unseres Erkennens." (Kaser 1988, 117) Mit dem Roman Aufschreibung aus Trient (1965) schafft Tumler eine breite Diskussionsbasis für die politischen Probleme rund um den Konflikt zwischen Deutschsprachigen und Italienern in Südtirol und dem Trentino. Nach einem Schlaganfall 1973 kann er nur mehr Gedichte schreiben. Er stirbt 1998 in Berlin.

Barbara Hoiß

 

Das Tal von Lausa und Duron. München 1935. - Der Ausführende. München 1937. - Der Soldateneid. München 1939. - Anruf. München 1941. - Heimfahrt. Salzburg u. a. 1950. - Ein Schloß in Österreich. München 1953. - Der Schritt hinüber. Frankfurt/Main 1956. - Der Mantel. Frankfurt/Main 1959. - Volterra. Wie entsteht Prosa. Mit einem Nachwort von Rudolf Hartung. Frankfurt/Main 1962. - Sätze von der Donau. Zürich 1965. - Franz Tumler zum 70. Geburtstag. Eine Anthologie. Hg. von Hans Wielander. Schlanders 1982.

Amann, Klaus: Der Anschluß österreichischer Schriftsteller an das Dritte Reich. Institutionelle und bewußtseinsgeschichtliche Aspekte. Frankfurt/Main 1988. - Baur, Uwe; Gradwohl-Schlacher, Karin: Literatur in Österreich 1938-1945. Handbuch eines literarischen Systems. Bd. 3. Oberösterreich. Wien u. a. 2014, 398-409. -Demetz, Peter; Zimmermann, Hans Dieter (Hg.): Arsenal. Beiträge zu Franz Tumler. München, Zürich 1977. - Burger, Wilhelm: Heimatsuche. Südtirol im Werk Franz Tumlers. Frankfurt/Main 1989. - Costazza, Alessandro: Franz Tumler. Una letteratura di confine. Merano 1992. - Franz Tumler. Beiträge zum 75. Geburtstag. Symposion 9. bis 10. Januar 1987, Wien. Hg. vom Bundesländerhaus Tirol. Wien 1987. - Fritz, Markus: Franz Tumlers Literarisches Südtirol-Bild. Innsbruck 1987. - Hoiß, Barbara (Hg.): Donau. Verzweigt. Schreiben unter und nach dem Nationalsozialismus. Franz Tumler und Arnolt Bronnen. (Ausstellung im StifterHaus 26. Februar bis 3. Juni 2008.) Linz 2008. - Huber, Leonhard: Die Architektur des Textes. Das Verhältnis von Raum- zu Sprachkonstrukten in Franz Tumlers Prosa. Frankfurt/Main 1994. - Himmel, Helmuth: Unsicherheit und Präzision. Zu Franz Tumlers Erzählung Der Mantel. In: Alfred Doppler und Friedbert Aspetsberger (Hg.): Erzähltechniken in der modernen österreichischen Literatur. Wien 1976. - Kaser, Norbert C.: Prosa, Bd. 2. Innsbruck 1988. - Müller, Karl: Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literarischen Antimoderne Österreichs seit den 30er Jahren. Salzburg 1990. - Strobel, Thomas: Hin und Her. Franz Tumlers "literarischer Selbstbefreiungsprozeß". Innsbruck 1999. - Wiener, Wolfgang: Erzählstrukturen im Werk Franz Tumlers. Salzburg 1979.