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Katharina Riese

© David Siebert

Geb. 4.6. 1946 in Linz.
Scheinbar Alltägliches wird vom sezierenden Blick der Autorin seiner Selbstverständlichkeit beraubt, ihr oftmals satirisch-distanzierter Erzählton verweist auf eine Skepsis gegenüber naturgegebenen, unangreifbar scheinenden Verhältnissen und manifestiert sich thematisch in ihrer Auseinandersetzung mit (Re)Konstruktion von Erinnerung und Identität oder Geschlechterrollen und Machtverhältnissen.

Katharina Riese studierte Volkskunde und Kunstgeschichte in Wien, wo sie seit 1964 lebt, und in Basel. Neben verschiedenen Berufen verfasst sie seit 1982 Rezensionen und Kritiken u. a. als freie Mitarbeiterin für den ORF, das FORVM, den Falter, MOZ und Der Standard. 1984 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. In den Jahren 1990-96 setzte sie sich theoretisch und künstlerisch intensiv mit Radiokunst auseinander, von 1993-2000 war Riese Mitkonzeptorin und -organisatorin der Veranstaltungsreihe "Dialektsalon" im ÖDA (österreichische dialektautorInnen/archive), 1999-2009 war sie im Redaktionsteam der Reihe "Textvorstellungen" in der Alten Schmiede, Kunstverein Wien.

In ihrem ersten Erzählband Selbstportrait mit Taube (1995) schreibt sie über ihre Geburtsstadt: "Es ist schwer, sich an Linz zu erinnern. Es ist ganz leicht, sich an Linz zu erinnern. Es ist schwer, sich an Beschwerungserniedrigungen und Niederlagenverwöhnungen, (...) zu erinnern, an Verfolgungs- und Verlobungszeiten zwischen Vergangenheiten, die in den mein Erinnerungskabinett anfüllenden Kleidergehirnkästen ihre ewige Ruhe nicht finden."
Die acht Erzählungen dieses Bandes mögen inhaltlich im Autobiografischen wurzeln - Kindheit in Linz, Kunstgeschichtestudium in Wien, Geburt einer Tochter -, doch Rieses literarische Technik führt über die Erwartungen an ein "Selbstportrait" hinaus. So etwa kehrt sich die Erzählung Streit mit Gott von einem alltäglichen Frühlingsausflug in einen Faustischen Spaziergang der Gottsuche, auf dem die Ich-Erzählerin in einer traumähnlichen Sequenz ihre "Vorgeschichte des Zerwürfnisses" mit "Großer Gott" schildert. Der anfängliche Naturalismus der Texte mit seinen unvermuteten surrealistischen Brechungen verweist auf die Skepsis gegenüber der grundlegenden Möglichkeit, ein literarisches Selbstportrait zu zeichnen.

Ihr "Erinnerungskabinett" öffnet Riese 2010 wieder im "Skizzenbuch" Vilma heiratet ihre Enkelin; dessen einzelne als "Blätter" bezeichnete Miniaturen sind Erinnerungsbruchstücke und berichten von der Kindheit der Ich-Erzählerin unter den Fittichen ihrer dominanten Großmutter. Eine skeptische Distanz zur eigenen Erinnerung sowie zum Erinnerten zeigen die in Kursivdruck gesetzten Floskeln und Redewendungen der Großmutter. Sie vermitteln einen Einblick in Alltag und Mentalität der österreichischen Nachkriegszeit, der Zeit "nach dem Furchtbaren, das hinter uns lag und wonach ich mich nicht umzudrehen hatte". Die skeptische Distanz der Autorin zu den biografischen Versatzstücken, die im Text durchschimmern, eröffnet sich bereits in der ersten Miniatur Prélude mit Gegenwind. In ein menschenleeres Zimmer mit Möbeln und Hausrat setzt die Erzählerin drei Figuren: ihre Mutter, ihre Großmutter sowie sich selbst als Dreijährige. Dieses Tableau ist die Rekonstruktion eines Fotos aus Kindertagen, das in der doppelten Figur des Auslösers nicht nur Vergangenes in Szene setzt, sondern den Erinnerungsprozess in Gang setzt und erst ermöglicht.

Der ironisch-satirische Erzählton, der in diesem Band anklingt, findet sich auch in früheren Texten Rieses, so etwa in Der Papa kommt zum zweiten Mal. (1996). Satirisches ist in den 17 Texten verschiedener Genres mit kräftigen Pinselstrichen gezeichnet, schon der zweideutige Titel öffnet deren Spielraum. Im Zentrum des Bandes stehen menschliche Entgleisungen, es entfalten sich facettenreiche Betrachtungen scheinbar alltäglicher Situationen, die ins Unerwartete kippen - ein harmlos anmutendes Picknick in Dirndl und Lederhose im Wald, das in eine Orgie ausartet, oder die Fantasie eines Redakteurs, der potenzielle Mitarbeiterinnen auf ihre sexuelle Bereitschaft hin erproben möchte. Ist der Tagtraum zu Ende gedacht, greift die Autorin ein und entlarvt ihn als Fiktion, schließlich gibt es "keinen Chef, der seine Sekretärinnen sexuell mißbraucht, bevor sie noch eingestellt sind". Rieses spezifischer Blick auf Geschlechterrollen, die die Abhängigkeitsverhältnisse der Figuren bestimmen, zieht sich als weiterer roter Faden durch ihr Werk. Die persönliche Auseinandersetzung mit feministischen Anliegen reicht von der Mitbegründung des "Ersten Wiener Frauentheaters" sowie der Wiener Autonomen Frauenbewegung AUF Mitte der 1970er-Jahre bis hin zur ersten wissenschaftlichen Publikation In wessen Garten wächst die Leibesfrucht (1983), der 1981 abgeschlossenen Doktorarbeit, die die Abtreibung in der Volksmedizin als "Widerstandsgeschichte gegen ein Reproduktionssystem" untersucht.

Starke, widerständische Frauenfiguren stehen auch im Hörspiel Die lange Bahnfahrt der Lucienne Bloch und der Frida Kahlo von Detroit nach Mexico City 1932 (1992) im Mittelpunkt. Darin montiert Riese Interviewpassagen, Tagebuchauszüge und andere Texte aus dem Kontext der Zugreise der beiden Frauen zu einem polyphonen Hörspiel. Entstanden ist es, als Riese sich selbst auf diese Bahnfahrt begab. Reisen bilden als weiteres konstantes Thema im Werk der Autorin auch den Angelpunkt ihrer jüngsten Publikation Wir danken für Ihren Besuch! Reisejournal mit Kassenbons (2011), der Rekonstruktion einer Reise nach Italien und Kroatien anhand von Kassabons. Auf eine literarische Suche nach der Konstitution von Wien-Bildern in der Literatur begibt sich Riese in ihrem "Wien-Tryptichon" The making of Vienna (1) - der Titel ist Gertrude Steins The Making of Americans nachempfunden. Aus Mosaiksteinen dreier Wien-Romane von Claudia Erdheim (So eine schöne Liebe), Elisabeth Reichart (Nachtmähr) und Marlene Streeruwitz (Verführungen. 3. Folge. Frauenjahre) entsteht ein Bild der Stadt, indem Zitate und Textpassagen aus den drei unterschiedlichen Prätexten montiert, kommentiert und zu einem topografischen Teppich verwebt werden.

Sie wurde ausgezeichnet u. a. mit dem Theodor-Körner-Preis 1986, dem Österreichischen Staatsstipendium 1989 und 2004 und dem Förderungspreis der Stadt Wien 1993.

Johanna Öttl

 

Rudolf. Einer Wiener Freiwilligen gewidmet. In: Aufschreiben. Wien 1981. - In wessen Gärten wächst die Leibesfrucht. Wien 1983. - Kalte Krieger; Selbstportrait mit Taube; Nebenfach Kunstgeschichte. In: Barbara Alms (Hg.): Blauer Streusand. Frankfurt/Main 1987. - Neigungsgefälle. Bayrischer Rundfunk, München 1987. - Berufstäter oder der Herr der Lage Sowienoch; Methusalem Feinling. In: Brigitte Classen (Hg.): Pornost. Triebkultur und Gewinn. München 1988. - Ein Karl selbdritt. In: Sylvia Treudl (Hg.): Drama Dreieck. Wien 1990. - Im Stehen und Saugen. In: Gerda Ambros, Helga Glantschnig (Hg.): Lektion der Dinge. 33 Autorinnen. Wien 1991. - 9.02. Ein Hörstück über die Liebe unter Verwendung und Zerschneidung eines Zitats von Franz Grillparzer. ORF, Wien 1991. - Kinderspielplätze. Hörstück gemeinsam mit Reinhard Handl. Wien 1990. - Die lange Bahnfahrt der Lucienne Bloch und der Frida Kahlo von Detroit nach Mexico. ORF, Wien 1992. - Frau Bachmann. Ein Stimmportrait. Hörstück gemeinsam mit Ulf Langheinrich. Wien 1993. - Der Weg des Himmels. Hörstück gemeinsam mit Ulf Langheinrich. Co-Produktion ORF und Wiener Festwochen, Wien 1994. - Einsame Spitzen. In: Hannes Hauser, Siegbert Metelko: Klagenfurter Texte zum Ingeborg-Bachmann-Preis 1994. München 1994. - Bezirkelte Gefühle. In: Morgenschtean. Die österreichische Dialektzeitschrift 1994/1995. - Selbstportrait mit Taube. Erzählungen. Wien 1995. - ein leichtes ziehen. In: Literatur und Kritik 1995, H. 295/296. - Au-Auer-Autsch. Hörstück gemeinsam mit Sam Auinger. ORF, Wien 1996. - Der Papa kommt zum zweiten Mal. Satiren und andere Geschichten. Wien 1996. - innen/außen/vierorts. Hörstück gemeinsam mit Sam Auinger. Wien 1997. - Ein Stück von mir. Uraufführung  Volkstheater Wien 1998. - The Making of Vienna (1). Literarische Stadtführerinnen durch Wien. Wien 2003. - Vilma heiratet ihre Enkelin. Skizzenbuch. Wien 2010. - Schlafen. 24 Positionen. In: kolik. Zeitschrift für Literatur 2011, H. 52. - Küchenmesser/ Wildschweine. In: kolik. Zeitschrift für Literatur 2011, H. 53. - Wir danken für Ihren Besuch! Reisejournal mit Kassenbons. Wien 2011. - Dings. In: kolik. Zeitschrift für Literatur 2012, H. 55.