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Der Nachsommer. Eine Erzählung

Manuskriptseite; © Adalbert-Stifter-Institut / StifterHaus

Roman von Adalbert Stifter, erschienen 1857 im Verlag Gustav Heckenast (Pest).

Der Nachsommer ist Adalbert Stifters erster Roman. Seit seinem schriftstellerischen Debüt mit der Erzählung Der Condor (1840) war Stifter ausschließlich als Autor von Novellen und Erzählungen hervorgetreten, und auch Der Nachsommer ist aus einem Novellenplan mit den Titel-Entwürfen Der alte Vogelfreund und Der alte Hofmeister hervorgegangen. Stifter hatte das Manuskript des Alten Hofmeister bereits dem Verleger Gustav Heckenast (1811-1878) zum Abdruck im Almanach Iris eingereicht, doch weil dieses Taschenbuch in den Wirren der Revolutionsjahre nicht mehr erschien, hat Stifter seine Handschrift am 6. März 1849 zurück erbeten, um den Stoff anderweitig "verwerthen" zu können. Der für einen 700-seitigen Roman ungewöhnliche Untertitel "Eine Erzählung", verweist noch auf diesen Entstehungszusammenhang.

Die Hauptfigur des Romans ist nicht der "alte Hofmeister", der im Zentrum der frühen Entwürfe steht, sondern ein Kaufmannssohn aus der Hauptstadt. Der junge Mann namens Heinrich Drendorf befasst sich mit den verschiedensten Interessensgebieten, da er von seinem Vater zum "Wissenschafter im Allgemeinen" (4/1, 17) bestimmt wurde. Seine besondere Neigung gilt der Geologie, und so unternimmt er jeden Sommer längere Forschungsreisen in das oberösterreichische Voralpenland und ins Gebirge. Auf seinen Wanderungen gelangt er eines Tages an ein über und über mit Rosen bewachsenes Landhaus, wo er vor einem drohenden Gewitter Schutz sucht. Der Besitzer des Hauses, in dem der "alte Hofmeister" aus den frühen Entwürfen zu erkennen ist, bestreitet zwar die Gefahr eines Unwetters, bietet dem Besucher aber dennoch bereitwillig Unterkunft an. Heinrich bleibt mehrere Tage und wird währenddessen von seinem "Gastfreund", dessen Namen er nicht erfährt, in die vielfältigen Geschäfte eingeführt, denen man auf seinem Anwesen nachgeht: Gartenbau und Schreinerei, Restauration alter Kunstwerke, Kunst- und Büchersammlung, Tier- und Kakteenzucht. Auch Heinrich beteiligt sich bei seinen jährlich wiederholten Besuchen an diesen Arbeiten, unternimmt aber auch ausgedehnte Studienreisen in die Alpenlandschaft, deren geologische Struktur er in umfangreichen Vermessungsarbeiten erforscht. Die liebevolle Beschäftigung mit all diesen Dingen darf indessen nicht als bloßer Eskapismus missverstanden werden: Der Asperhof ist deutlich als harmonischer Gegenentwurf zu der als defizient empfundenen Welt ,draußen‘ modelliert, einer Welt, die - zur Entstehungszeit des Romans, nicht zur Zeit der Romanhandlung - geprägt ist von Revolution, Industrialisierung und rasanter Modernisierung. Stifter hat in einem Brief vom 22. März 1857 an den Verleger Heckenast eigens betont, dass man in seinem Roman nichts von Dampfbahnen und Fabriken lesen könne.

Auf dem Asperhof lebt ein etwa sechzehnjähriger Junge namens Gustav als Pflegesohn des Hausherrn. Dessen Mutter Mathilde besucht zusammen mit seiner Schwester Natalie in jedem Jahr zur Zeit der Rosenblüte den Asperhof. Ein zufällig mitangehörtes Gespräch zwischen dem "Gastfreund" und Mathilde lässt Heinrich erkennen, dass zwischen den beiden eine besondere Beziehung besteht, die er allerdings noch nicht deuten kann. Er wird in den freundschaftlichen Verkehr der beiden Familien eingebunden und reist auch zu mehreren Gegenbesuchen in den Sternenhof, den Wohnsitz Mathildes und Natalies. Untergründig wächst Heinrichs Zuneigung zu Natalie, deren er sich selbst jedoch zunächst nicht bewusst ist. Erst nach langer Zeit erkennen die beiden im Verlauf eines Gesprächs in einer künstlichen Grotte im Garten des Sternenhofs ihre Liebe zueinander und schließen ihren "Bund". Hier auch erfährt Heinrich, dass Natalie jenes Mädchen gewesen ist, das ihm einst bei einer Aufführung des König Lear im Burgtheater in einer Loge aufgefallen war. Bevor Heinrich und Natalie sich verloben können, weiht der Hausherr den zukünftigen Bräutigam in die Geschichte der beiden Familien und sein Verhältnis zu Natalies Mutter ein. Wie Heinrich schon aus Gesprächen mit hauptstädtischen Bekannten erfahren hat, ist sein väterlicher Freund der Freiherr von Risach, der früher hohe Staatsämter innehatte. Als junger Mann aus armen Verhältnissen finanzierte er sein Studium als Hauslehrer bei einer adligen Familie und verliebte sich in die Tochter des Hauses - Mathilde -, die seine Neigung erwiderte. Nachdem die beiden ihre Liebe eine Zeitlang vor den Eltern des Mädchens geheim gehalten haben, fühlt Risach die Verpflichtung, ihnen die Wahrheit über das angeknüpfte Verhältnis zu sagen. Angesichts der Jugend ihrer Tochter untersagen ihm die Eltern den weiteren Umgang mit Mathilde, Risach fügt sich in das nach seiner Auffassung Unvermeidliche. Mathilde ist jedoch von seinem "Verrat" an ihrer Liebe zutiefst enttäuscht, wendet sich von ihm ab und weist auch in Zukunft alle Annäherungsversuche von sich. Sowohl Mathilde als auch Risach gehen unglückliche Ehen ein; Risachs Ehe bleibt kinderlos, seine Frau stirbt nach wenigen Jahren. Mathilde dagegen hat zwei Kinder: Gustav und Natalie. Als sie nach vielen Jahren mit ihrem Sohn, dem sie den Vornamen des geliebten Mannes gegeben hat, den Asperhof besucht, bittet sie den alten Risach um Vergebung und vertraut ihm die Erziehung Gustavs an. Fortan leben die gealterten Liebenden in enger Freundschaft, in einem "Nachsommer ohne vorhergegangenen Sommer" (4/3, 224), wie Risach in seinem Lebensrückblick sagt. Im Verlauf dieses Rückblicks erfährt Heinrich auch den Familiennamen Natalies: Es ist die Gräfin Tarona, die ihm seine Freunde in Wien schon immer als Inbegriff weiblicher Schönheit gepriesen hatten. Bevor Heinrich und Natalie heiraten, muss der Bräutigam allein noch eine lange Europareise unternehmen, erst nach seiner Rückkehr kann endlich die Hochzeit gefeiert werden. Heinrich und Natalie werden von den Eltern und Risach reich beschenkt und von Letzterem zu Erben seines beträchtlichen Vermögens eingesetzt; ihr Leben ist fortan geprägt von "Einfachheit Halt und Bedeutung" (4/3, 282), die Risach und Mathilde versagt geblieben waren.

Stifter nennt in dem Roman kaum einmal reale Ortsnamen, aber dennoch sind die Handlungsorte leicht identifizierbar. Das reale Vorbild für Drendorfs Heimatstadt ist Wien, obwohl der Name im ganzen Roman kein einziges Mal erwähnt wird; die Landschaft, in der weite Teile der Romanhandlung spielen, ist dem oberösterreichischen Voralpenland nachempfunden, und in dem Gebirge, das sich Heinrich wandernd erschließt, ist das Dachsteingebiet zu erkennen. Mit dem fiktiven "Simmigletscher" setzt Stifter dem Geografen, Glaziologen und Alpenforscher Friedrich Simony (1813-1896) ein literarisches Denkmal, dem im Jahre 1842 erstmals eine Winterbesteigung des Dachsteins gelungen war, wie sie auch im Nachsommer geschildert wird (3. Band, 3. Kapitel). Simonys Aufsätze Drey Decembertage auf dem Dachsteingebirge (1843) und Zwey Septembernächte auf der hohen Dachsteinspitze (1844) hatte Stifter bereits für die Landschaftsdarstellung in der Erzählung Bergkristall (Journalfassung: Der heilige Abend) herangezogen. Der Holzaltar in der Kerberger Kirche, der im 7. Kapitel des 1. Bandes ausführlich geschildert wird, ist eine literarische Nachschöpfung des berühmten gotischen Flügelaltars in der Kirche St. Wolfgang zu Kefermarkt, an dessen Restaurierung Adalbert Stifter in seiner Tätigkeit als Landeskonservator für Oberösterreich maßgeblich beteiligt war. Ein "Echerntal" schließlich, von dem anlässlich der Gebirgswanderungen im Nachsommer beiläufig die Rede ist, existiert auch außerhalb des Romans bei Hallstatt in Oberösterreich. Die so "wirklichkeitstreu" anmutende Darstellung all dieser Örtlichkeiten darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dörfer, Städte und Landschaften im Nachsommer literarische Konstrukte sind, auch wenn sie reale Vorbilder haben mögen. Nicht zuletzt Stifters Meisterschaft der sprachlichen Nach- und Neuschöpfung ebenso realistischer wie poetischer Landschaften begründet den weltliterarischen Rang dieses Romans.

Walter Hettche

 

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